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Valery Stojanow
Bürgerprotest und neue Aufbrüche - Bulgarien

"Europa - wohin? Herausforderungen für Kirche und Gesellschaft", Diplomatische Akademie Wien, 14.-16. März 2018.
Veranstalter: PRO ORIENTE, Institut G2W - Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West, Renovabis - Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittelß und Osteuropa

Sehr geehrte Damen und Herren,

Willkommen bei unserem Panel über die Bürgerproteste in Osteuropa. Das Thema ist sehr heikel, und darüber sollte vielleicht ein Politologe oder ein Soziologe, doch kein Historiker referieren, der sich beruflich mit ganz anderen Problemen beschäftigt. Die Befassung mit der Geschichte wird gefährlich, wenn man den eigenen Sachbereich verlässt, um über Prozesse zu diskutieren, die noch im Gange sind und wovon auch keine zugängliche Quellenbasis besteht. Deshalb versuche ich hier nur chronologisch nachzufolgen, was in Bulgarien in den letzten Jahren geschah, mit der Hoffnung ein wenig Licht auf die Frage "Europa – wohin?" werfen zu können, ohne aber Antworten oder gar Lösungen vorzuschlagen.

Wenn ich mich nach dem Programm richtig orientiere, sollte die Betonung auf die Jahre 2014-2015 fallen. Nicht nur, weil sich damals die Krise in der Ukraine entfaltete, und in Rumänien eine Reihe von Gerichtsverfahren gegen korrupte Politiker mit Gefängnisstraffen endete, sondern auch weil 2015 ein Wendejahr für die EU war. Mit der Verschärfung der Flüchtlingskrise stieß die in Europa kultivierte Welcome Culture mit der Realität zusammen und musste dann ihre Einstellung gegenüber den in der Not geratenen und en masse aufgenommenen Menschen ohne Bereitschaft, sie zu integrieren, überdenken. Viele muslimische Migranten waren keine Flüchtlinge des syrischen Bürgerkrieges sondern junge Männer aus Pakistan, Afghanistan oder Schwarzafrika, die nach einem besseren Leben strebten. Dies war eine Art "Völkerwanderung", welche die organisierten kriminellen Gruppen entlang der Route bereicherte. Aber sie wurde auch von Vertretern der europäischen Elite begrüßt, entweder um billige Arbeitskräfte und einen Bevölkerungszuwachs zu sichern, oder um die nationalen Identitäten in einer bewusst gesteuerten multikulturellen Gesellschaft "verwischen" zu lassen. Gleichzeitig weigerten sich Staaten wie Israel oder Saudi-Arabien, die kulturell oder geographisch nah den Migranten lagen, syrische Flüchtlinge aufzunehmen, damit ihr "kulturelles Gleichgewicht" nicht gestört wird. Und allerlei NGO’s trugen dazu bei, den menschlichen Fluss nach Europa zu steuern. Der Versuch, die Integrierung der Neuankömmlingen etwa durch Beseitigung von Kirchenkreuzen zu erleichtern, oder die Einführung von Quoten für Zuteilung der Flüchtlingen unter den EU-Staaten ohne Rücksicht auf ihr Wunsch, in Deutschland zu bleiben, stiftete Unzufriedenheiten an, sowohl in den Staaten des ehemaligen Ostblocks, als auch in dem sogenannten "Alten Europa". In Deutschland erschien z.B. die euroskeptische „Alternative für Deutschland“ und die PEGIDA-Bewegung, die mit einer Unterstützung in den „neuen“ Bundesländern rechneten, während sich Ungarn und Österreich an die Errichtung von Mauern entlang ihrer östlichen Grenzen orientierten. Statt einer "offenen Gesellschaft" in einer Welt der freien Verkehr von Menschen, Waren und Kapitalen, zeichnet sich nun die Tendenz einer Rückkehr zur Sicherung im Rahmen der eigenen nationalen Grenzen ab, und der Brexit ist nur ein Anzeichen davon. Die Unterstützung populistischer Parteien in Europa wächst, und dies ist nicht nur auf die immer groß werdende soziale Schichtung, sondern auch auf den Globalisierungsdruck in einer Welt zurück zu führen, die bereits gelernt hatte, jedes ideologische Diktat abzulehnen – sei es nationalistischer, kommunistischer oder auch neoliberaler Art.

Die Auswahl von 2014-2015 als einen zeitlichen Bezugspunkt ist wohl berechtigt, doch der Anfang lag im vorherigen Jahr, als auch Massenproteste in Bulgarien stattfanden. Deswegen konzentriere ich mich auf die Geschehnisse von 2013, die dann 2014-2015 nachließen.

Die Proteste 2013 spiegelten den Kampf von zwei politischen Zentren wieder, die im Hintergrund agierten, oder auch die Konkurrenz zwischen zwei Fraktionen der bulgarischen Oligarchie, die sich die wirtschaftlichen Ressourcen des Landes aneigneten. Sie gingen durch zwei Phasen, die sich nach dem Charakter, sowie den Motiven, Forderungen, Teilnehmern und Formen des Widerstands unterschieden. Als 2012 die Stromtarife um 13% erhöht wurden, kam es im Winter zu unerträglichen Strom- und Heizkosten. Ende Januar 2013 brachen in vielen Ortschaften Spontanproteste aus. Sie zeigten sich in allerlei Formen des zivilen Ungehorsams, aber auch in Selbstentzündungen, die bis dahin in der bulgarischen Geschichte unbekannt waren – es gab insgesamt sieben Fälle nur im Februar und März.

Begonnen als einen Kampf gegen die hohen Stromrechnungen, nahmen die Proteste vom Februar 2013 einen antisystemischen Charakter an. Es wurden Straßen und Kreuzungen blockiert und Puppen von Minister niedergebrannt. Es gab Auseinandersetzungen mit der Polizei, Menschen wurden verletzt. Man stellte Losungen wie "Mafia", "Rücktritt", "Gericht für die Schuldigen" aber auch "Genug mit dem Kapitalismus, genug mit dem Raub", auf. Die Unzufriedenheit wurde von nationalistischen Parteien wie IMRO [die Innere mazedonische revolutionäre Organisation] und „Attacke“ unterstützt und von Anarchisten und Fußballfans "aufgeheizt". Manche „Gesichter“ des Protests entpuppten sich als Vertreter der Linken und der extremen Linken, aber unter den Aktivisten gab es auch "Geschäftsleute" mit guten Beziehungen zur Unterwelt. Einige davon versuchten später, in die Politik einzutreten. Somit wurde die Energie der Massen von oppositionellen Kräften gemeistert und die Bürger wurden zu Marionetten in den Händen derer, gegen die sie protestierten. Dies gab den Beobachtern einen Grund zu vermuten, das die Februerproteste ein Szenario für den Sturz der regierenden Partei darstellten, um die Russlands Interessen in Bulgarien aufrechtzuerhalten. Am 20. Februar trat Boyko Borisov zurück. Einen Tag später verkündete der frühere Ministerpräsident, dass gegen ihn auch ein Attentat geplant worden sei.

Mit der Ernennung einer Dienstregierung im März ließ die Welle der Proteste nach. Den vorgezogenen Parlamentswahlen gingen Skandale voraus, darunter – über die entdeckten 300.000 zusätzlichen Stimmzettel, die gedruckt wurden, um die Wahlergebnisse zu manipulieren. Bei einer Beteiligung von 51.3% der Stimmberechtigten gewann GERB die Wahlen mit 30.54%. Dies reichte aber nicht, um alleine regieren zu können, und eine Koalition mit den politischen Rivalen von GERB kam nicht in Frage. Deswegen verlangte die Partei die Kassation der Wahlen und nachdem dies nicht geschah, gab ihr Leader das Mandat zurück. Die mit 26.61% zweitstärkste Bulgarische sozialistische Partei (BSP) zeigte sich jedoch bereit, die Regierungsverantwortung zu übernehmen, und bildete ein Koalitionskabinett mit der Bewegung für Rechte und Freiheiten (BRF) unter der Leitung des ehemaligen Finanzministers Plamen Orescharski. Noch damals protestierten Sympathisanten der außerhalb des Parlaments gebliebenen liberaldemokratischen Parteien mit GERB-Anhängern zusammen. Aber auf eine nationale Ebene brach die Unzufriedenheit richtig aus, als Deljan Peevski (BRF) zum Vorsitzenden der Staatlichen Agentur für nationale Sicherheit (DANS) ernannt wurde. Ein Medien-Magnat und Oligarch, drohte Peevski seine Gegner aus der Tribüne der Nationalversammlung, dass es ihnen nun weh tut. Wohl in diesem Zusammenhang kommentierte B. Borisov, dass die neuen Regierenden "etwas Radikales mit uns machen wollen - ob eine Verhaftung, oder gar einen Mord". Die Aussichten, die Agentur für nationale Sicherheit verwendet zu werden, um mit politischen Rivalen abzurechnen und noch größere wirtschaftliche Macht zu erlangen, löste am 14. Juni die Proteste aus, die unter den Namen "#ДАНСwithme" bekannt wurden.

Im Gegensatz zu den Antimonopolprotesten vom Winter waren die Forderungen jetzt rein politischer Natur – der Rücktritt des „Kabinetts von Orescharski“. Schon zu Beginn gab es unter den Menschenmenge Politiker von GERB, DSB, SDS u.a. zu sehen. Anschließend koalierten sich die im Parlament nicht vertretenen Parteien in einem „Reformblock“, der später im zweiten Kabinett von GERB eigene Ministersessel bekam. Die jetzigen Proteste unterschieden sich auch durch die Verpflichtung vieler NGO’s, die Unzufriedenheit der Massen zu modellieren. Sie waren finanziell mit der „Open Society“ Foundation von George Soros sowie mit der „America for Bulgaria“ Foundation verbunden. Auch ein „Protest-Netzwerk“ wurde zur Koordinierung der Handlung eingesetzt. Die Sommerproteste umfassten unterschiedliche Personengruppen, unabhängig von ihrem Beruf, vom Bildungsstand oder sozialer Hintergrund, darunter auch Nachfahren der kommunistischen Nomenklatur. Sie wurden als Proteste der Schönen, Klugen, Erfolgreichen, Proteste der Mittelschicht erklärt und somit den Protesten vom Februar gegenübergestellt. Die Massenmedien verfolgten die Geschehnissen, wobei sie auch "live" von den Strassen sendeten. Und dort gab es vieles zu sehen, besonders nachdem sich in den Zügen Musiker, Ballerinen und Schauspieler einreihten, die Pantomimen spielten und durch „Performances“ die Proteste in einem unendlichen "Happening" umwandelten. So sägte die aufgewachte Zivilgesellschaft mit einer Ironie auf die Nerven der Macht. Dies diente wohl, "den Dampf freizulassen", brachte aber zu kein reales Ergebnis. Im Herbst schlossen sich dazu auch die Studenten an, mit einer Okkupation von Universitätsgebäuden, wo sie eine gelbe Fahne mit schwarzer Faust schwenken ließen. Sie verliehen eine neue Kraft den Protesten, die allerdings bis zum August 2014 andauerten, bevor die Regierung von Oresharski endlich zurücktrat.

Das neue Kabinett von Borisov versprach Reformen im Gesundheitswesen, in der Wissenschaft und Bildung, in der Justiz, aber sobald dies nicht geschah, verlor es die Unterstützung eines Teils des „Reformblocks“. Als die dritten vorgezogenen Wahlen 2017 die liberaldemokratischen Parteien erneut außerhalb des Parlaments ließen und das Kabinett "Borisov-3" unter Beteiligung von Nationalisten gebildet wurde, protestierte nun niemand mehr. Die Bürger verlieren wohl jede Hoffnung, dass sie aleine etwas ändern könnten. Lediglich die Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und die Umzüge der Umweltschützer sind weiter geblieben. In der neuen liberalen Weltordnung schien es, für einen sozialen Staat keinen Platz mehr zu geben. Bulgarien folgte den allgemeinen Trend. Und nur eine Erschütterung (ob soziale, politische, oder auch ökologische) könnte die Geister bewegen und die Menschen dazu bringen, ihr eigenes Schicksal wieder in die Hände zu nehmen.

Wien, am 15. März 2018

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(Quelle: Renovabis)